Entwicklung des Gottesbegriffs (2)
Sonntag, 3. Dezember 2023
Die aufgeklärte naturwissenschaftliche ORANGE Stufe 5 erklärt die Welt auch ohne Gott – so werfen viele Menschen in diesem Stadium ihren Glauben an Gott grundsätzlich über Bord, ohne den Versuch, sich zu neuen Ufern aufzumachen.
Die Religionskritiker Feuerbach, Marx und Nietzsche erheben ihre Stimme, letzterer erklärt Gott sogar für tot. Fristet Gott nun ein Lückenbüßerdasein für all jene Lücken, die die Naturwissenschaft (noch) nicht erklären kann?
Auch die moderne Theologie überwindet das BLAUE Denken und lässt die Amtskirche hinter sich zurück. Die kritische Exegese (Bibelauslegung) kommt auf den Plan und löst das wortwörtliche Bibelverständnis ab. Die Frage nach dem historischen Jesus (wer war Jesus als Mensch jenseits der theologischen Deutung wirklich?) wird zentral. ORANGE Denkende erkennen in Jesus denjenigen, der die BLAUE Gesetzesfrömmigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten zugunsten der konkreten menschlichen Situation überwindet.
Auf gesellschaftlicher Ebene führt das ORANGE Bewusstsein nach der Reformation zur Trennung von Staat und Kirche und erlaubt dem Einzelnen die freie Wahl der Religion.
Das GRÜNE Denken führt zur Gleichberechtigung unter den Religionen: Jede Religion ist ein in sich geschlossener Heilsweg, erfasst aber nur einen Teil der Wirklichkeit Gottes. GRÜN entdeckt neue Gottesbilder durch eigene Erfahrung: Licht, Liebe, Quelle, Urgrund, letzte Wirklichkeit. „Ich bin spirituell, aber nicht religiös“ ist geboren als Ablehnung von BLAUER dogmatischer Religion. Neue Formen der Gotteserfahrung und des lebendigen Miteinander (z.B. in Taizé) bilden sich heraus – die traditionelle BLAUE Liturgie engt das Gotteserleben von GRÜN zu sehr ein. Initiativen wie Maria 2.0 und OutInChurch finden großen Zuspruch.
Das soziale Programm Jesu ist ein eindeutig GRÜNES: Jesus inkludiert alle von der Gesellschaft Verstoßenen, nimmt jeden in Liebe an, sogar den Feind. Gleichberechtigt steht Jesus neben anderen bedeutenden geistigen Lehrern als moralisches Vorbild für ein Leben im Dienst des Humanismus, was den interreligiösen Diskurs nährt und befeuert.
Die GELBE Stufe bringt eine weitere deutliche Zäsur mit sich, da sie die erste Stufe ist, die auf der Meta-Ebene nicht nur den Überblick über die vorangegangenen Stufen hat und das Bewusstsein dafür bereithält, sondern diese allesamt wertschätzt und als notwendige, ineinandergreifende Schritte auf dem Entwicklungsweg integriert.
GELB ist offen für spirituelle Entwicklung und stellt fest, dass sich die Mystiker aller Religionen näher sind als ein Mystiker und ein fundamentalistischer Anhänger derselben Religion. Menschen der GELBEN Stufe können Gott in allem sehen und alles in Gott sehen. GELB hält alle Gegensätze aus und erkennt durch sie hindurch die göttliche Einheit von allem, was ist. Das erlaubt eine multiperspektivische Wahrnehmung, die die Ich-Du-Grenze aufhebt und dazu führt, sich im Gegenüber wiederzuerkennen. GELB beendet das Christsein zugunsten des Christussein: der Wahrnehmung des göttlichen SELBST im Menschen und der Einheit von allem, was ist. So ist Jesus für GELB ein erwachter, erleuchteter Meister, der genau das erfahren hat und den Menschen zur Teilhabe ermutigt.
Auf der TÜRKISEN ganzheitlichen Stufe nähern sich Wissenschaft und Metaphysik einander an. Gott ist pures Bewusstsein oder Geist – keinesfalls ein Objekt, über dessen Existenz man in ORANGE streiten konnte. TÜRKIS wahrnehmende Menschen erkennen zunehmend, dass es die Wirklichkeit an sich nicht gibt. Selbst die handfest wirkende physische Welt ist ein Konstrukt unseres Bewusstseins durch die verschiedenen Stufen der Evolution hindurch. So ist jede dieser Stufen der Überzeugung, sie sei der einzig wahre Interpretationsrahmen für die Wirklichkeit, so Wilber in Gott 9.0.
Wie sich das Jesusbild auf dieser noch selten ausgelebten Stufe herauskristallisieren wird, muss vage bleiben. Wilber sieht in Jesus eine Verkörperung des transzendentalen egolosen SELBST, mit dem wir im zeitlosen Moment des Augenblicks verschmelzen können: Der so beschriebene kosmische Christus ist unser Spiegelbild, unsere eigene göttliche Natur.
Die Autor/-innen von Gott 9.0 sehen die Aufgabe von TÜRKISEM Christentum in der Aufforderung zu integralem Denken, kosmischer körperlicher Teilhabe, mystischem Gewahrsein der Allverbundenheit, intuitiver Anteilhabe am wissenden Feld der Zukunft und einem schöpferischen Handeln in einem tiefen Mitgefühl als Gottes-Dienst an der Welt.
Spätestens hier ist - in der Transzendierung äußerer Form - der Punkt erreicht, an dem alle noch so verschiedenen Wege zu Gott, sichtbar in den Religionen der Welt, zusammenlaufen und verschmelzen. Hier schließt sich auch der Kreis zum unbewussten Einheitsempfinden der archaischen Stufe BEIGE - auf dieser Stufe allerdings in vollem Bewusstsein.
Wie im Blog vom 19.11.23 dargelegt, erkennt das KORALLENE geistige Bewusstsein, dass es in Wirklichkeit keine Grenzen gibt, die nicht durch Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen erzeugt werden. In dieser Erkenntnis eines freien grenzenlosen GÖTTLICHEN Feldes unendlicher Potenziale verzichtet es auf Antworten, die ja immer gebunden sind an die zuvor durchlaufenen Wertestufen, und bevorzugt stattdessen Fragen. Fragen sind in ihrer Natur revolutionär und evolutionär und ermöglichen Prozesse des Gewahrwerdens und Überschreitens bislang ungeahnter Möglichkeiten. In welcher Art diese sich entfalten werden (man könnte auch sagen: in welcher Art GOTT sich ent-falten wird), hängt eng mit den offenen und dringenden Fragen von TÜRKIS zusammen, die sich jetzt noch nicht abzeichnen.
Menschen auf dieser Bewusstseinsstufe sind äußerst rar. Sie sind ihrer Zeit und Kultur weit voraus; als Fremde für ihre Zeitgenossen werden sie nicht nur missverstanden, sondern sind der Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt wie seinerzeit Jesus, Sokrates oder Gandhi. Vielleicht kannst du jetzt - im Erkennen der Stufen - nachvollziehen, wie wenig Menschen unterer Stufen Jesus, den Christus, den Erleuchteten, wirklich verstehen konnten und tatsächlich auch heute größtenteils immer noch nicht können!
Und über Religion hinaus: Die Kommunikation von Menschen verschiedener Bewusstseinsgrade bleibt eine Herausforderung; das erleben wir auf der Weltbühne wie auch im kleinen privaten Bereich. Besonders im Falle von Konflikten hilft mir das Wissen um eben diese unterschiedlichen Bewusstseinsstufen - dabei ist es aus meiner Sicht eine echte Herkulesaufgabe, das eigene Ego beiseitezulegen und dem Gegenüber auf dessen Stufe, also auf Augenhöhe mit ihm, zu begegnen.
Integrale Spiritualität nach Wilber bedeutet noch viel mehr als in den letzten Blogs beschrieben; immerhin, ein Anfang ist gemacht! Konnte ich dein Interesse wecken oder hast du meine Erklärungen als „böhmische Dörfer“ wahrgenommen und vielleicht direkt beiseitegelegt? Ich persönlich bin sehr dankbar, dass sich mir diese Zusammenhänge gezeigt haben und ich klarer sehe als zuvor. Nun verstehe ich auch, was Eckhart Tolle meint, wenn er sagt, dass in unserer Zeit die Krisen des alten Bewusstseins (niedriger Stufen) gleichermaßen zunehmen, wie die des neuen (auf höheren Stufen) sich enorm beschleunigen und rasant Bahn brechen: Alles wird schlechter und besser zugleich.
Vielleicht kennst du das von dir selber auch: An guten Tagen sind wir bereit für Neues, für Entwicklung, es „fluppt“ einfach; an schlechten fallen wir dagegen gerne auf eine niedrige Stufe zurück und wir zeigen unsere eher unbewussten, unreifen Seiten – und manchmal schämen wir uns dafür („Scham“ ist auch eins meiner BLAUEN Themen): Wie konnte ich nur (so unbewusst sein)! Ich hätte es doch besser wissen sollen. Zwei Schritte nach vorne, einen zurück: Immer noch Grund genug, optimistisch zu bleiben, wie ich finde!
Nun sind wir im Advent angekommen. Zeit, den Verstand runterzufahren und das Herz „sprechen“ zu lassen. Zeit für Stille – um die wird es im nächsten Blog gehen.
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