Projektion (2)
Freitag, 20. Oktober 2022
Nachdem ich den letzten Blogeintrag zum Thema Projektionen geschrieben hatte, ging mir das Thema nicht aus dem Kopf. Ich habe meine Gedanken achtsam beobachtet und musste wieder einmal feststellen, wie oft ich urteile und bewerte – häufig eher negativ als positiv. Und obwohl ich den psychologischen Hintergrund verstanden glaubte, fiel es mir doch wie Schuppen von den Augen: So, wie ich mein Gegenüber sehe, so sehe ich mich selbst. Alle negativen Denk- und Verhaltensweisen, die ich jemand anderem anlaste, wohnen bislang unbemerkt in mir und verhindern Versöhnung und meine eigene Heilung. Bis zur Selbstliebe scheint es noch ein weiter Weg zu sein, dachte ich mir.
Und einen Schritt weiter gedacht: So, wie ich mich sehe, so sehe ich Gott. Da verwundert es nicht, welch kuriosen Wandel das Bild von Gott in den verschiedenen Kulturen und Religionen durch die Geschichte hindurch erlebt hat, abhängig vom prägenden Kontext, von eigenen Erfahrungen und vor allem vom eigenen Bewusstseinsgrad. Wenn du mich heute fragst, würde ich dir spontan antworten, dass mein Gottesbild ein positives ist: Liebe, bedingungslose Liebe als Wesenszug des Göttlichen. Gott ist Liebe, er (aus der Tradition heraus verwende ich das männliche Pronomen) kann gar nicht anders. Und doch spüre ich, dass diese Aussage noch nicht vollständig in meinem Herzen wohnt. Da ist immer noch ein Anteil Furcht, Angst, Distanz, und zwar, wie ich heute weiß, durch den starken Einfluss der Kirche in meiner Kindheit, sicherlich auch verstärkt durch die häusliche Erziehung. Tragischerweise wurde mir von der Kanzel noch das Fegefeuer angedroht, wenn ich die Gebote der Kirche (und sie wurden mir als eins mit denen Gottes verkauft) nicht einhalte. Der zürnende, aufrechnende Gott, der uns im Alten Testament begegnet, fand Einzug in meinem Herzen und erschuf in mir Angst, Kleinheit und Trennung von Gott. Kein Wunder, dass ich mich mit der Selbstliebe so schwertue!
Und auch die wunderbare Liebesbotschaft Jesu im Neuen Testament konnte den Turnaround nicht wirklich bewirken, zu tief hatten sich die frühkindlichen Muster in meinem Gehirn und in meinem Herzen eingeprägt und wurden und werden zum Teil immer noch im kirchlichen Kontext bedient. Aber nicht nur dort belächeln Menschen eine liebende, vergebende Haltung als naiv und einfältig. Es scheint noch ein weiter Weg, bis sich das allgemeine Bewusstsein hebt. Aber darauf warten? Und hebt es sich nicht gerade durch jeden Einzelnen von uns, der sich für inneren Frieden und Heilung anstelle von Rechthabenwollen entscheidet?
Wie gut, dass uns die Neurobiologie Mut zur Veränderung macht. Ja, Veränderung geht tatsächlich, und zwar können wir durch immer wiederkehrende Wiederholungs- und Übungsprozesse unsere neuronalen Strukturen neu überschreiben. Ganz leicht ist das nicht. Man bedenke, über wie viele Jahre, sogar Jahrzehnte wir unser Denken zementiert und in unserem individuellen und kollektiven Unterbewusstsein eingegraben haben. Disziplin und Geduld sind also gefragt, nicht anders als beim Erlernen einer Sprache oder eines Instruments. Meine Erfahrung zeigt, dass extrem polare Menschen wie ich es ziemlich schwer haben; Menschen, die sich charakterlich von Hause aus sowieso eher in der Ausgewogenheit bewegen, tun sich deutlich leichter. Nun gut, es ist, wie es ist. Packen wir es an und machen das Beste daraus!
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