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Die Qualität der Zeit

Sonntag, 17. September 2023


Alles hat seine Zeit, haben wir zuletzt im hermetischen Gesetz des Rhythmus gehört.

Im vorchristlichen Weisheitsbuch Kohelet (3,1-15) ist zu lesen, dass alles unter dem Himmel seine Zeit und seine Stunde hat: geboren werden und sterben, zerstören und heilen, weinen und lachen, schweigen und reden – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Entstehungszeit dieser Lebensweisheit kannte die Uhr noch nicht. Zeit war eher Qualität als Quantität, und ohne die Uhrzeiger im Nacken schien man intuitiv zu spüren, dass jedes System und jedes Individuum seine eigenen Zeitmuster und Zyklen hat, die sich nicht nach dem, was wir Uhrzeit nennen, richten, sondern ihre je eigene Zeit brauchen.

Hat wirklich alles seine Zeit? Geben wir allem die nötige Zeit?

Wenn ich an die letzten Jahrzehnte in meinem Leben denke, insbesondere an meine beruflichen Aktivitäten, definitiv nicht. Immer neue Herausforderungen strömten auf uns in Schule ein (jeder möge einmal parallel für seinen eigenen Arbeitsbereich Gedanken anstellen): Schulprogrammarbeit, Qualitätsanalyse, Individuelle Förderung, Inklusion und Integration, Zentrale Prüfungen, Parallelarbeiten, Kernlehrpläne, Lernzeiten, Förderempfehlungen, Digitalisierung, zuletzt das Distanzlernen während der Pandemie, um nur ein paar wenige wesentliche Eckpunkte zu nennen – vom Privaten ganz zu schweigen. Mehr Quantität als Qualität. Schneller, höher, weiter und am besten alles gleichzeitig. Und angesichts der Fülle der ständig hinzukommenden Aufgaben ist es offensichtlich, dass es auf Qualität gar nicht mehr so richtig ankommt; augenscheinlich geht es vielmehr darum, hinter die zu erledigenden Aufgaben ein Häkchen setzen zu können. Wen wundert es, dass es an allen Ecken und Enden hapert. Aber: Die Seele kennt sehr wohl den Unterschied zwischen Qualität und Quantität und lässt sich definitiv nichts vormachen.

Wie wohltuend, dass es immer wieder (fast gestohlene) Momente von Zeit-Qualität gab und gibt: ein gutes Gespräch mit einer Schülerin, ein liebevoller Blick in Richtung eines gestressten Kollegen, dem Partner aufmerksam zuhören, einen mitfühlenden Brief schreiben, eine neue Blog-Idee begeistert zu Papier bringen, ein kniffeliges Problem kreativ lösen, aus vollster Seele singen – Beispiele aus meinem Umfeld.

Zeit-Qualität bezieht sich nicht auf die äußere Form dessen, was in einer bestimmten Zeit geschieht, sondern auf die Intensität, auf das innerliche Dabeisein, auf die Präsenz. Wenn ich ganz bewusst darüber nachdenke, würde ich eine Zeit intensiver Präsenz so beschreiben: Ich blende aus, was um mich herum passiert. Ich verbinde mich mit mir, mit meinem Inneren und tauche dann ganz offen und urteilsfrei in die Situation ein, wie sie sich mir zeigt. Das scheint ein hoher Anspruch zu sein und mag bereits suggerieren, dass wir das nicht allzu oft hinbekommen. Aber letztendlich ist es genau das, was passiert, wenn wir uns für einige Zeit hingebungsvoll einer einzigen Sache widmen, ganz dabeibleiben, uns nahezu darin verlieren, ohne uns gleichzeitig mit anderen Dingen zu beschäftigen und ohne bereits im Kopf zu haben, was danach kommt. Das redet unserer im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückten (= nicht mehr in der richtigen Ordnung befindlichen) Gesellschaftsidee des Multi-Tasking ganz bestimmt nicht das Wort, im Gegenteil. Merken wir, um ein allgegenwärtiges Beispiel zu nennen, überhaupt noch, wie wir uns zum Sklaven des Handys gemacht haben und kaum noch eine Tätigkeit verrichten, ohne es parallel zu bedienen oder zumindest im Blick zu behalten? Lassen wir unsere Kleinsten sich zweckfrei und ganz bei sich im Spiel entfalten oder drücken wir ihnen schon in jungen Jahren ein Tablet in die Hand, das ihnen vorgaukelt, das Leben bestünde aus pausenlos sich wechselnden Bildern vor einer nicht enden wollenden Geräuschkulisse? Können wir Stille aushalten, oder schalten wir automatisch das Radio ein, weil uns die Ruhe unerträglich scheint? Wie steht es mit dem geduldigen Zuhörenkönnen, wenn uns jemand seine Geschichte erzählt? Dem simplen nur Dasein und Handhalten am Krankenbett eines lieben Menschen?

Der Verlust von Zeitqualität geht aus meiner Sicht damit einher, dass wir die Verbindung zu uns selber verloren haben. Wir haben uns der äußeren Welt der Form, der Quantität - man könnte auch sagen: der Oberflächlichkeit im eigentlichen Wortsinn - verschrieben, ohne zu merken, was dies mit uns macht, persönlich und kollektiv als Gesellschaft. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen – vielleicht mit Hilfe von Anregungen aus Alles eine Frage der Zeit. Warum die „Zeit ist Geld“-Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt. Die Autoren Harald Lesch, Karlheinz A. Geißler und Jonas Geißler zeigen auf, wie Zeitnot und Hektik unseren Alltag prägen und die Gesellschaft einschließlich des gesamten ökologischen Systems belasten; und sie benennen Lösungen, wie wir der Erschöpfung von Mensch und Natur sinnvoll begegnen können.


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