Das Thomasevangelium (1)
Sonntag, 22. Oktober 2023
Im Jahr 1945 wurde eine Sammlung bisher unbekannter frühchristlicher Schriften in der Nähe des kleinen ägyptischen Ortes Nag Hammadi von ortsansässigen Bauern, die sogenannten Nag-Hammadi-Schriften, entdeckt – unter ihnen im Besonderen das gnostische Thomasevangelium mit geheimen Lehren von Jesus, die vermutlich zum Schutz vor Kaiser Konstantin und den frühen orthodoxen Kirchenvertretern versteckt worden waren.
Religionswissenschaftlerin Elaine Pagels, Professorin für Theologie an der Princeton University in New Jersey, arbeitete im Team der Nag-Hammadi-Schriften mit und wurde bekannt durch mehrere national ausgezeichnete Bücher über die gefundenen apokryphen (= nicht zum offiziellen Kanon gehörenden) Schriften des Neuen Testaments. In Das Geheimnis des fünften Evangeliums. Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt (Beyond belief. The secret gospel of Thomas) erkennt sie im Thomasevangelium trotz vorhandener Parallelen eine im Kern andere Lehre von Jesus als die der vier kanonischen Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.
Schon der Einleitungssatz des Thomasevangeliums „Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas (Thomas/aramäisch = Didymos/griechisch = Zwilling) schrieb sie auf“ (Logion 1) wirft Fragen auf: Gab es eine geheime Lehre von Jesus, zu der nicht alle Zugang hatten? Hatte Jesus einen Zwillingsbruder? Pagels weist überzeugend darauf hin, dass es unter jüdischen Rabbinern durchaus üblich war, zum gemeinen Volk in anderer Weise zu predigen als zu den Eingeweihten, zum engeren Kreis. Dieser Tradition folgend hat Jesus offensichtlich dem Volk gegenüber andere Worte gewählt als im Kreis seiner engen Jüngerschaft; es gibt hierzu sogar Hinweise, z.B. im Markusevangelium (Mk 4,11: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil).
Während erste Forschungen das neu entdeckte Thomasevangelium in seiner Entstehungszeit nach den vier kanonischen ansiedelten, wurden sich Pagels und ihr Team zunehmend sicherer, dass es genau andersherum sein musste: Das Thomasevangelium, eine aus gestalterischer Sicht „bloße“ Auflistung von Jesussprüchen ohne den Charakter einer zusammenhängenden Erzählung, ist aller Wahrscheinlichkeit nach in seiner ersten Form eher das ursprüngliche Evangelium, entstanden um 50 n.Chr., also ca. 20 Jahre nach Jesu Tod.
Das ist wirklich nahezu unglaublich, denn es stellt die gesamte christliche Glaubenslehre in ihrer Kernaussage auf den Kopf, wie ihr gleich erfahren werdet. Für mich als spirituell Suchende eine wirkliche Sensation und ein weiterer Beweis dafür, dass die christliche Mystik mit den spirituellen Traditionen aller großen Religionen in ihrem Wissen um diese geheime Lehre letztendlich mehr oder weniger übereinstimmt (vgl. auch meine auf Home beschriebene Intention für diese Website). Wie viel Leid könnte sich die Menschheit mit dieser Erkenntnis ersparen, wenn man bedenkt, wie viele Glaubenskriege im engeren und weiteren Sinne seit Anbeginn der Menschheit geführt wurden und immer noch werden!
Wie ist es nun dazu gekommen, dass Schriften wie das Thomasevangelium als häretisch (= ketzerisch) eingestuft und in Folge, da offiziell verboten, versteckt und im Geheimen gelehrt wurden?
Mit der sogenannten Konstantinischen Wende, die den Übergang von der Verfolgung der Christen hin zur Bildung einer christlichen Staatsreligion beschreibt, wurde im vierten nachchristlichen Jahrhundert der offizielle Glaube der neu gebildeten Kirche beschrieben und im Kanon, im akzeptierten Standard, festgelegt. Kaiser Konstantin beabsichtigte eine universelle, katholische (= allumfassende) Kirche, außerhalb derer kein Heil zu finden sei und die letztendlich seine eigene Macht stützte. Orthodoxe Kirchenvertreter, unter ihnen im Besonderen Irinäus von Lyon, argumentierten bereits früh massiv gegen die gnostischen Schriften und bereiteten so deren Ausschluss von der offiziell anerkannten Lehre vor.
Was war nun der entscheidende, der springende Punkt, die Andersartigkeit der gnostischen, apokryphen Schriften? Über welches geheime Wissen verfügte der Verfasser des Thomasevangeliums?
Während die kanonischen Evangelien die Einmaligkeit des Jesus von Nazareth als einziger Sohn Gottes, als einzigartige Inkarnation des Göttlichen herausstellen, erkennt das Thomasevangelium dasselbe Potenzial in einem jeden von uns: Wir sind ALLE in gleicher Art mit der göttlichen Quelle verbunden wie Jesus selbst. Jesus ruft uns auf, genau das wiederzuentdecken, uns dessen zu erinnern. Einfach unglaublich! Wie völlig anders wäre nicht nur unser aller Werdegang verlaufen, sondern die gesamte Weltgeschichte, hätten nicht Macht und Unterdrückung, sondern Liebe und Freude unsere Lebenswege und die unserer Vorfahren bestimmt! Denn mit der Lehre der Vorrangstellung von Jesus (siehe den Blog vom 27.8.23) wurde der Rest der Schöpfung vom Göttlichen abgeschnitten, separiert, als sündig und erlösungsbedürftig eingestuft – und gleichzeitig die Kirche als die Heils(über)bringerin definiert. Welch perfider Teufelskreis – ob nun bewusst oder unbewusst auf den Weg gebracht; ein Teufelskreis, der im 21. Jahrhundert mit einem wachen Blick und steigendem Bewusstsein endlich im Namen der Liebe Gottes verdient durchbrochen zu werden, wie ich meine.
Im nächsten Blog tauche ich mit Hilfe von ausgewählten Textstellen – bei Thomas heißen sie „Logien“ (von griech. Logion = Wort) – noch ein bisschen tiefer in die mystische Kernaussage des Thomasevangeliums ein und versuche, sie auf dem Hintergrund von Pagels Forschungen zu deuten.
Auch wenn es für den einen oder anderen im Moment vielleicht allzu religionswissenschaftlich hergeht, liegt gerade in der Deutung des Thomasevangeliums der Schlüssel zu unserem Inneren, unserem wahren SELBST. Es lohnt sich, dabeizubleiben.
Lies hier den zweiten Teil meines Blogs zum Thomasevangelium.
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