Meisterin-Eckhardt-Logo Meisterin-Eckhardt-Logo

Das Thomasevangelium (2)

Sonntag, 29. Oktober 2023


Wann gleicht eine Lehre einem Geheimcode? Nicht ausschließlich, wenn sie hinter verschlossener Tür gelehrt wird, sondern wenn sich diejenigen, denen sie mitgeteilt wird, auf der gleichen Bewusstseinsebene, auf dem gleichen Verständnisniveau befinden wie ihr Lehrer. Für alle anderen sieht es dann nicht selten so aus, als spinne derjenige, der die Lehre preisgibt, so verschlüsselt klingen seine Worte. Nicht umsonst weist Jesus seine Jünger strikt an, sie sollen zu niemandem über ihn reden (Mk 8,30), zu groß ist die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen (vgl. auch meinen Blog vom 9.4.23). So sieht Religionswissenschaftlerin Elaine Pagels im gnostischen Thomasevangelium eindeutig eine Botschaft Jesu an seinen engeren Kreis, während die kanonischen Evangelien an die breite Öffentlichkeit, der eben jenes tiefe Verständnis fehlte, gerichtet waren.

Neben uns schon bekannten Sprüchen kreisen die Aussagen des Verfassers des Thomasevangeliums um wirklich fundamental spirituelle Fragestellungen in einer Denk- und Ausdrucksweise, die sich der unsrigen nahezu entzieht:

Wo ist das Königreich, das Himmelreich Gottes?
Das Königreich ist innerhalb und außerhalb von euch (Logion 3).
Das Königreich des Vaters ist auf der Erde ausgebreitet und die Menschen sehen es nicht (Logion 113).
Deutung: Das Reich Gottes, der Himmel, ist demzufolge ein geistiger, allgegenwärtiger Seinszustand im Hier und Jetzt, also weder eine Zukunftsperspektive noch ein ferner Ort (vgl. die Blogs vom 17.11.22 und vom 24.9.23).

Wo ist das Göttliche?
Spaltet ein Holz, ich bin dort, hebt einen Stein hoch, und ihr werdet mich dort finden (Logion 77).
Erkenne, was vor deinem Angesicht ist (Logion 5).
Deutung: Das Göttliche umgibt uns: Es ist in allem, was ist, in dem, was uns begegnet – gemäß der Vorstellung des Panentheismus (vgl. Blog vom 28.5.23).

Wie können wir das Königreich Gottes finden?
Wenn ihr EUCH erkennt, dann werdet ihr erkannt werden, und ihr werdet begreifen, dass ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid (Logion 3).
Wer das All erkennt, sich aber selbst verfehlt, verfehlt das Ganze (Logion 67).
Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Und wenn er findet, wird er bestürzt sein. Und wenn er bestürzt ist, wird er erstaunt sein. Und er wird König sein über das All. (Logion 2).
Wenn ihr die zwei zu einem macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht (...), dann werdet ihr in das Königreich eingehen (Logien 22 und 106).
Deutung: Wir finden das Reich Gottes über das Erkennen unseres göttlichen SELBST. Wenn wir uns mit den äußeren Dingen der Welt identifizieren, verfehlen wir das Reich Gottes. Gott zeigt sich in uns wie in Jesus: Jesu Wesen zu erkennen heißt folglich, unser eigenes zu erkennen – unser göttliches Ursprungswesen, befreit von allen Identifikationen mit dem Ego-Denksystem.
Und schließlich: Zwei zu einem zu machen heißt, die duale Welt der Gegensätze zu überwinden und zu erkennen, dass alles mit allem verbunden und letztlich eins ist (vgl. Blog vom 9.7.23).

Wer sind wir?
Wer von meinem Mund trinkt, wird werden wie ich (Logion 108).
Wir sind aus dem Licht gekommen, dem Ort, wo das Licht durch sich selbst geworden ist (...). Wir sind seine Söhne und wir sind die Auserwählten des lebendigen Vaters (Logion 50).
Deutung: Hier zeigt sich nach Pagels die metaphorische Bedeutung von Thomas als „Zwilling“: Wer die Botschaft Jesu begreift und in sich aufnimmt, wird wie er (sein „Zwilling“) und umgekehrt – eins im Geist, entstanden aus der ursprünglichen göttlichen Lichtenergie.

Was bedeuten Auferstehung und Unsterblichkeit?
Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken (Logion 1).
Die Toten leben nicht und die Lebenden werden nicht sterben (Logion 11).
Ich fand sie alle trunken (...). Leer kamen sie alle in die Welt und suchen auch wieder leer aus der Welt herauszukommen (Logion 28).
Deutung: Es geht nicht um leibliche Auferstehung, sondern um geistige (vgl. Blog vom 26.3.23). Wer die Worte versteht und sich in der göttlichen Einheit weiß, kann und wird nicht sterben – auch wenn sein irdischer Leib vergeht. Mit „Toten“ oder „Trunkenen“ sind diejenigen gemeint, die nicht verstehen; mit „Lebenden“ solche, die verstehen.

Pagels unterscheidet zwischen „wissen“ und „kennen“ (verstehen); „wissen“ ist die Tätigkeit unseres Verstandes, während „kennen“ ein tiefes Verständnis, das aus dem Herzen kommt, meint und Kernstück der gnostischen Lehre ist. So ist die Wahrheit der geheimen jesuanischen Lehre nicht über unseren Verstand zu begreifen, sondern kann nur tief in uns erspürt werden – wie auch unser Verstand keinen Zugang hat zum Reich Gottes, sondern dieses nur über unser Herz zugänglich ist: Es kann letztendlich nicht verstanden, sondern nur im Herzen (wieder)erkannt/erinnert werden wie eine längst vergessene Melodie.

Das alles ist auf den ersten Blick keine leicht verständliche Botschaft – zudem in einer wirklich rätselhaften Sprache –, aber eine wunderbare, wie ihr mit der Zeit merken werdet. Sie führt uns aus der dogmatischen, trennenden Enge religiösen Denkens in die Weite Gottes und ermuntert uns, unsere eigenen Gotteserfahrungen zu machen. In dieser Weite, in dieser Offenheit ist der integrative, allumfassende Charakter des Thomasevangeliums zu erspüren, der uns mit allem, was ist, verbindet – etwas, was die mystischen Traditionen aller Religionen von jeher wussten und lehrten. Es könnte ein Weg der Integration unter den Religionen werden und damit zum so notwendigen Weltfrieden beitragen.

Ausdrücklich danke ich Professorin Elaine Pagels für die Einblicke in ihre hochinteressante Arbeit, die sie mir in einem persönlichen Kontakt gewährt hat.


Lies hier den dritten Teil meines Blogs zum Thomasevangelium.


Schreib einen Kommentar!


Zum aktuellen Blog zurück