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Das Thomasevangelium (3)

Sonntag, 05. November 2023


Wie erkennen wir unser wahres SELBST, den göttlichen Kern in uns?

In Logion 4 erklärt Jesus: Der Mensch, alt in seinen Tagen, wird nicht zögern, ein kleines Kind von sieben Tagen über den Ort des Lebens zu befragen, und er wird leben.

Nun ist es so, dass wir ein Neugeborenes kaum im klassischen Sinne befragen können (ohnehin würde dann der Gleichnischarakter dieses Jesuswortes verloren gehen), aber wir können uns Gedanken machen und versuchen, uns in seine Situation hineinzuversetzen.
Was macht den Säugling aus, was unterscheidet ihn von uns?

Beneidenswert, oder? Das, was wir als die eigentliche Menschwerdung ansehen, die Entwicklung des Gehirns - und ich möchte diese evolutionäre „Errungenschaft“ keineswegs geringschätzen -, ist noch in den Anfängen und behindert noch nicht das Sein im Moment, die Zufriedenheit, das Wohlbefinden. Der Säugling gleicht einer (zumindest aus irdischer Sicht) relativen Tabula rasa, einem noch unbeschriebenen Blatt in seiner noch folgenden Lebensgeschichte. Er hat die „Kleider der Welt“ noch nicht angelegt. Es quälen ihn keine Gedanken über das Gestern, keine Sorgen über den morgigen Tag; er muss (in der Regel) nicht um sein Überleben kämpfen, nicht besser sein als seine Altersgenossen; er ist einfach, wie er ist: nackt, bloß, schutzbedürftig – und gleichzeitig im tiefen Vertrauen, dass für ihn gesorgt ist.
Und genau hier, erklärt Jesus, ist der Ort des Lebens. Hier ist die Tür zum Himmel, zum ewigen Sein. Das, was uns als Mensch einen evolutionären Vorteil verschafft hat, nämlich ein möglichst großes Ego (unsere Identität, unsere Persönlichkeit in dieser Welt), ist dagegen hinderlich. Wenn ihr euch nicht der Welt enthaltet, sagt Jesus ganz klar in Logion 27, werdet ihr das Königreich nicht finden.

Und in der Aufzählung, was in der Welt uns ganz konkret am Erleben des Königreiches hindert, stoßen wir auf Altbekanntes aus den kanonischen Evangelien:

Logion 36: Tragt nicht Sorge vom Morgen bis zum Abend (...), was ihr anziehen werdet.
Deutung: Diese Aussage ist selbstredend nicht auf Kleidung im engeren Sinne zu beziehen, sondern auf alle Spielarten unseres geschickten Egos, uns zu (ver)kleiden, sprich: unser göttliches SELBST zu verstecken zugunsten der (meist unbewussten) Rolle, die wir in dieser Welt spielen (siehe den Blog vom 19.2.23).

Logion 26: Den Splitter, der im Auge deines Bruders ist, siehst du, den Balken aber, der in deinem Auge ist, siehst du nicht.
Deutung: Unsere Eigenblindheit bringt uns immer wieder zu Fall. Das, was wir als Schatten in uns tragen, projizieren wir liebend gerne auf unser Gegenüber, im Privaten wie auf der großen Weltbühne. Wenn wir unsere Schattenthemen nicht aufarbeiten und stattdessen über Projektionen Feindbilder pflegen, bleibt unser göttliches SELBST dauerhaft verschattet (siehe die Blogs vom 15.10.22, vom 5.2.23 und vom 6.8.23).

Logion 27: Wenn ihr den Sabbat nicht zum Sabbat macht, werdet ihr den Vater nicht sehen.
Deutung: Der Sabbat im jüdischen Glauben ist zu vergleichen mit dem Sonntag (= dem Ruhetag) in unserem Kulturkreis. Jesus mahnt uns, regelmäßig aus dem Hamsterrad der Hektik unseres Alltags auszusteigen, um in der Reflexion, im Innehalten das Spiel der Welt zu betrachten und zu durchschauen und wieder zu unserem wahren SELBST zu finden (siehe die Blogs vom 28.11.22, vom 29.12.22 und vom 30.7.23).

Auf die Frage der Jünger nach Fasten und Gebet antwortet Jesus: Lügt nicht. Und tut nicht das, was ihr hasst. Denn alles ist enthüllt vor dem Angesicht der Wahrheit (Logion 6).
Deutung: Das Göttliche lässt sich nicht täuschen; es ist einzig der Wahrheit des Herzens verpflichtet; alle Heuchelei ist ihm fremd. Wenn Fasten und Beten (und sonstige „gute Werke“) nicht unserem Herzen entspringen, sind sie Lüge und daher wertlos, ja sogar hinderlich (siehe die Blogs vom 17.12.22 und vom 19.2.23).

Seid also wachsam gegenüber der Welt, appelliert Jesus in Logion 21 an uns. Gürtet eure Lenden mit großer Kraft, damit die Räuber (= die Ego-Verlockungen der Welt) keinen Weg finden, um zu euch zu kommen.
Und an die Kirchenoberen, damals wie heute, gerichtet: Die Pharisäer und die Schriftgelehrten haben die Schlüssel der Erkenntnis empfangen, (doch) sie haben sie versteckt. Weder sind sie (selber in das Königreich) hineingegangen, noch haben sie die gelassen, die hineingehen wollten (Logion 39) – eine harsche Kritik, das Eigentliche nicht nur nicht erkennen zu wollen/zu können, sondern es den ihnen Anbefohlenen zudem zu verwehren (siehe den Blog vom 23.4.23).

Das, was beim Lesen der Logien auf den ersten Blick den Eindruck spinnerter Weltfremdheit vermittelt, könnte auf den zweiten vertiefenden als Auftrag zur Achtsamkeit dem eigenen Leben gegenüber beschrieben werden: Werde dir deiner Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen bewusst; durchschaue, was sich hinter der „Verkleidung“ der Spiele der Welt verbirgt und erinnere dich daran, wer du wirklich bist. So wird Bewusstwerdung zum Gebot der Stunde, damals wie heute.

Immerhin erfreulich in diesen Tagen ist, dass Bewusstseinsforschung in den wissenschaftlichen Disziplinen angekommen ist, was zunächst einmal eine größere Akzeptanz garantiert. So bin ich bei meiner Recherche zum Thomasevangelium auf ein Stufenmodell der Bewusstseinsbildung gestoßen, das auf den Forschungsergebnissen von Clare Graves und Ken Wilber basiert; eine erstklassige Systematik, die nicht nur verstehen hilft, warum Jesus damals wie heute missverstanden wurde, sondern über ihren integralen Ansatz die großen Religionen der Welt zu einen vermag.
Im Rahmen von Wilbers Integraler Spiritualität komme ich schließlich noch einmal zur wichtigen Ausgangsfrage dieses Blogeintrags zurück, denn in letzter Instanz lässt das Thomasevangelium hier noch einiges offen – vermutlich nicht ohne Absicht.


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