Entwicklung des Gottesbegriffs (1)
Sonntag, 26. November 2023
Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was kindlich war (1 Kor 13,11).
Das, was Paulus im 1. Korintherbrief in Kurzform zum Ausdruck bringt, wird von James W. Fowler in seinem bekannten Stufenmodell des Glaubens auf sechs Stufen ausdifferenziert dargestellt. Diese Entwicklung innerhalb des Individuums findet sich nach Clare Graves und Ken Wilber auch bezogen auf den Gottesbegriff von Religionen, der sich stufenweise nach vorhersagbaren Mustern verändert. „Wenn jemand GOTT sagt, müsste er eigentlich dazu die Stufe seiner Entwicklung nennen (...). Dann stellt sich beispielsweise heraus, dass orthodoxe Juden, konservative Katholiken oder traditionelle Moslems meistens Gott 4.0 (BLAU) meinen, wenn sie von ihm sprechen. Protestanten verstehen unter Gott eher Gott 5.0 (ORANGE), wobei es auch Kreise gibt, die zurück zu Gott 4.0 tendieren. Die meisten engagierten Christen dagegen meinen mit Gott die Version 6.0 (GRÜN) – und werden von ihren Bischöfen und anderen 4.0-Anhängern permanent missverstanden“, so die Autor/-innen von Gott 9.0.
Wie sehen nun die neun verschiedenen Ebenen bezogen auf die Entwicklung des Gottesbegriffs aus? Wie verhält sich das Jesusbild dazu?
Die erste Stufe kennt keine Religion; im Grunde kann man noch nicht einmal von Gott sprechen, da der Mensch eins ist mit allem, was ist – jedoch ohne es zu wissen. Es ist der Seinszustand, der noch keine bewusste Subjekt-Objekt-Dualität entwickelt hat und völlig egolos ist; ein Zustand, mit dem wir uns auf den höheren Stufen - und dann bei vollem Bewusstsein - wieder verbinden möchten. In spiritueller Sprache: Dann schließt sich der Kreis, wir kehren nach Hause zurück: individuell und gesamtethnisch. (Vergleiche auf individueller Ebene den Zustand des Säuglings wie im Blog vom 5.11.23 beschrieben.)
Erstmals stehen die Menschen vor der Frage, wohin die Toten gehen, denn sie erfassen intuitiv, dass Energie nicht verloren gehen kann. Magische Geister, die in den Ahnen wirken, verursachen Verfluchungen und Verzauberungen, die das Geschehen bestimmen.
Der Gott der Erzväter im Buch Genesis ist ein PURPURNER Familiengott (der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs). Die Erzählung von der verhinderten Opferung Isaaks (Gen 22) macht deutlich, dass dieser Gott einst Menschenopfer forderte.
Jesus selbst begegnet den Menschen auf den ihnen innewohnenden Stufen. Als eine kranke Frau ihn als PURPURNEN Heiler berührt, begegnet er ihr mit den Worten: Dein Glaube hat dich gesund gemacht (Lk 8,48).
Der kirchliche Bereich weist auch heute noch PURPURNE Traditionen auf. So ist z.B. der zentrale Wandlungsakt in der Eucharistiefeier, vollzogen durch einen geweihten Priester, durchströmt von PURPURNER Energie. Die Verehrung von Reliquien und Devotionalien fällt auch in diesen Bereich.
Ein kindlich-magisches Gottesbild zeigt sich heute in Menschen, für die Glaube nur zur Erfüllung von Bedürfnissen oder Hilfe in Notfällen da ist.
Jahwe, der Gott Israels, ist ein ROTER Kriegsgott, der sich leidenschaftlich und grausam, dann auch wieder zärtlich seinem Volk zuwendet. Er steht in heftiger Konkurrenz zu anderen blutrünstigen ROTEN Göttern und reagiert höchst allergisch auf jeden religiösen Seitensprung seines Volkes.
Die ROTE Seite in Jesus zeigt sich durch seine vehemente Lossagung von seinem Clan, seiner Familie: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Ich bin gekommen, um die Söhne zu entzweien mit ihren Vätern, die Töchter mit ihren Müttern (...). Wer seinen Vater oder seine Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert (Mt 10,34-37), was in Nazareth dazu führt, dass man ihn für verrückt hält. Jesus nutzt das ROTE Charisma der Unerschrockenheit gegen korrupte Machtinteressen, wofür er, wie andere Widerstandskämpfer auch, mit seinem Leben bezahlt.
Religionskriege durch die gesamte Menschengeschichte hindurch zeugen von ROTER Energie im Namen Gottes.
Mit der BLAUEN Stufe setzt sich der Monotheismus durch und mit ihm ein neues Gottesbild: der Allmächtige, der omnipräsente Schöpfer des Himmels und der Erde, der alle ROTEN Machenschaften durchschaut. Wer sich an die Zehn Gebote, das neue göttlich legitimierte Recht, hält, steht unter Gottes Schutz und erfährt seinen Segen. Die strenge BLAUE Gesetzgebung übernimmt die Aufgabe, die ROTEN grausamen Begierden zu zügeln, dem „Sodom-und-Gomorra“ Einhalt zu gebieten, und schafft damit humane Lebensbedingungen: Ein riesiges, der Menschheit dienendes Zivilisationsprojekt entsteht durch die Wahrnehmung von Recht und Unrecht, aber auch mit der Kehrseite des Erlebens von Scham und Schuld und mit ihnen der Vorstellung von ewiger Verdammnis.
Das Thema Schuld machte den Kreuzestod Jesu zu einem BLAUEN Thema: Um die Sünde der Welt zu sühnen, musste Jesus geopfert werden – wobei der Opferungsgedanke wiederum dem PURPURNEN Bereich entstammt.
Ungesundes BLAU ist immer dann auszumachen, wenn Gläubige felsenfest davon überzeugt sind, allein die Wahrheit zu besitzen und Andersdenkende daher missachten.
Im Bereich der Religionsgeschichte ist am Ende von BLAU eine sinnvolle Zäsur möglich, da BLAU das Ende der mythischen Stufen signalisiert. Ich denke, ich bin in meiner Altersstufe kein Einzelfall, wenn ich von mir sage, dass ich schwerpunktmäßig BLAU (mit ersten vorsichtigen Blicken Richtung ORANGE) erzogen wurde – sowohl im Elternhaus als auch in meiner Kirche. Mein Universitätsstudium wie auch Eckpunkte meiner persönlichen Lebensgeschichte katapultierten mich schließlich aus BLAU heraus in die sukzessive folgenden Stufen. Ein notwendiger Befreiungsschlag und gleichermaßen ein sehr schmerzhafter Prozess, der so etwas wie ein Gefühl der Heimatlosigkeit hinterließ: Bin ich noch richtig? Wohin gehöre ich? Die intensive Beschäftigung mit Spiral Dynamics hat mir verdeutlicht, dass wir stets mit der für uns ältesten Stufe verbunden bleiben, und zwar stärker als mit allen folgenden. Das erklärt, warum z.B. Gerechtigkeit, Pflicht und Schuld immer noch große Themen für mich sind. Die Erkenntnis der GELBEN Stufe wird sein, dass wir im Weiterschreiten alle vorherigen Stufen integrieren, d.h. auch, uns mit ihnen versöhnen und sie für partiell gut und richtig halten (ich darf also ein bisschen Heimat behalten). So beobachten z.B. Lehrende in der Schule mit Sorge das Verhalten von Kindern, die ohne Regeln aufwachsen; oder dass Teile unserer Gesellschaft auseinanderzubrechen drohen, weil Gesetze im Allgemeinen oder das Grundgesetz im Speziellen keine Beachtung finden. An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass keine Stufe übersprungen werden kann und jede Stufe ihren Anteil an der Wahrheit des großen Ganzen hat.
Lies hier den zweiten Teil meines Blogs zur Entwicklung des Gottesbegriffs.
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