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Vom Mythos des Normalen

Sonntag, 10. September 2023


Bist du normal? Was ist schon normal? Nur weil wir alle mehr konsumieren, als die Erde verkraften kann, ist deshalb übermäßiger Konsum normal?
Susanne hat mich, ihren Lebensgefährten Peter, um diesen Blog-Eintrag auf ihrer Webseite gebeten, da er gut an ihren letzten anschließt.
Ich habe den New-York-Times-Bestseller „Vom Mythos des Normalen – Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung“ von Dr. Gabor Maté, einem kanadischen Arzt und Autor, gelesen. Maté hat eine ganz einfache Definition für das Normale: Das Normale ist das Menschengerechte, das, was den Menschen heil sein und in Ganzheit leben lässt. Konkreter wird er, indem er die menschlichen Bedürfnisse nach Bindung und Authentizität als normal benennt.
Anormal hingegen ist, was den Menschen verformt, ihn traumatisiert und ihn dadurch aus dem Gleichgewicht bringt. Die Folgen sind nahezu unausweichlich psychische und dann häufig auch physische Erkrankungen.
Wie Maté auf den ersten Seiten seines Buches, so möchte ich auch folgende Sätze des Philosophen Erich Fromm zitieren und zu bedenken geben: „Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster noch nicht zu Tugenden; die Tatsache, dass sie so viele Irrtümer gemeinsam haben, macht diese Irrtümer noch nicht zu Wahrheiten; und die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Formen psychischer Störungen aufweisen, heißt noch nicht, dass diese Menschen gesund sind.“
Sind wir dann alle anormal? Ja, sagt Maté. Es gibt in unserer Welt so viele Anlässe für Traumata, „Traumata mit großem T“, wie z.B. Gewalterfahrungen in der Kindheit, aber eben noch häufiger die „mit kleinem t“, beispielsweise wenn die Eltern den Wunsch ihres kleinen Kindes nach Bindung nicht ausreichend beachten, weil das Leben zur selben Zeit die Konzentration auf andere Dinge im Außen (z.B. Beruf) fordert (fordert es das wirklich?).
Ein Trauma ist nichts anderes als ein Dilemma; welche der Handlungsoptionen sich der meist junge Mensch auch wählt (unbewusst natürlich), am Ende gibt es DIE richtige Wahl nicht. So oder so gerät das Leben aus dem Gleichgewicht.
Ich habe sofort an das hier bereits mehrfach besprochene Enneagramm gedacht. Was sind die neun dort beschriebenen Persönlichkeitstypen anderes als aus dem Gleichgewicht geratene Existenzen? Irgendetwas in ihrem Leben, in ihrer Umgebung ist schief gelaufen, so dass sie nicht anders darauf reagieren konnten, als ihren speziellen Enneagramm-Typ auszuprägen:
Die Sechs beispielsweise hat vermutlich aus mangelndem Urvertrauen, das vielfach aus Verlassensängsten in der frühen Kindheit herrührt, eine Angst vor allem und jedem entwickelt. Angst bedeutet, ständig auf der Hut zu sein, bedeutet ständige Adrenalinzufuhr, um auf Angriff oder Flucht vorbereitet zu sein. Dieser permanente Stress macht krank, wie sich jeder leicht vorstellen kann.
In unseren westlichen Kulturen gilt ja mittlerweile der Individualismus als DAS erstrebenswerte Lebensmodell: Jeder soll nach seiner eigenen Fasson selig werden. Was aber, wenn unsere Fasson nur eine von vielen schrägen und unbewussten Reaktionen auf traumatische Begegnungen auf unserem Lebensweg ist? Was aber, wenn diese schrägen Reaktionen uns dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen, dass Krankheit die Folge ist, sein muss?
Maté führt hunderte von psychologischen, soziologischen und medizinischen Studien an und belegt seine These vom Mythos des Normalen durch Aussagen führender Wissenschaftler und Autoritäten. Das vermeintlich Normale in unseren westlichen Gesellschaften hat oft, zu oft mit Stress in Beruf, Familie und Freundeskreis zu tun, mit dem vom Ego und dem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld geforderten Immer-mehr. Geschlechter- und wirtschaftliche Ungleichheit, Rassismus und unsere konsumorientierte Denkweise bedingen in unseren Kulturen die Traumatisierung jedes einzelnen von uns.
Dies alles beschreibt Maté auf den ersten 400 Seiten seines Wälzers detailliert und schlüssig. Beim Leser entsteht das ungute Gefühl der Ausweglosigkeit, auch wenn Maté jegliche persönliche Schuldzuweisungen unterlässt.
Auf den letzten 150 Seiten verabreicht Maté dann doch noch seine heilsame Medizin, die sich in weiten Teilen mit den Lehren der Weisen dieser Welt deckt: Gib den Kampf gegen deine Krankheit auf, arrangiere dich mit ihr, oder, besser noch, begegne ihr zugewandt und in Freundschaft. Betrachte die Erkrankung als deinen Lehrmeister auf dem Weg zur Heilung. Lass dem Leben seinen Lauf, alles ist gut, so wie es ist. Erst wenn du den Kampf, der ja unweigerlich wieder mit Stress verbunden ist, aufgibst, ist Heilung möglich. Als Beleg für diese These führt Maté zahlreiche Interviews mit Menschen, die eine sogenannte Spontanheilung erlebt haben, an.
Es geht auch nicht um die Schuld an der Erkrankung. Du hast dir die Erkrankung ja nicht herbeigesehnt. Die Krankheit resultiert aus einem Ungleichgewicht in deinem Leben, das du nicht bewusst gewählt hast, das dir vielmehr, vermutlich in jungen Jahren, durch deine Lebensumstände aufgezwungen worden ist. Über die Jahre hat sich dieses Ungleichgewicht zu einer Erkrankung ausgewachsen (siehe auch die Blogs vom 22.01.23 und vom 29.01.23).
Weil es den Rahmen dieses Blogs sprengen würde, weise ich auf die Schritt-für-Schritt-Anleitung zu mehr Heilung, die das Buch ebenfalls enthält, hier nur hin.
Zu guter Letzt wünscht sich der Autor, dass vor allem unsere westlichen Gesellschaften den Erkenntnissen bezüglich Traumata und ihren Auswirkungen auf die Volksgesundheit mehr Beachtung schenken würden. Konkret benennt er die Bereiche Medizin, Justiz und Bildung/Schule. Wenn Ärzte mehr Wissen über die Auswirkungen von Traumata hätten und zudem die Zeit, sich entsprechend ausführlich mit dem „Körper-Geist-System“ ihrer Patienten auseinanderzusetzen, wäre viel gewonnen. Wenn das Justiz-System weniger Strafsystem wäre, sondern mehr ein Resozialisierungssystem im Sinne der Traumatabewältigung, würde auch das unsere Gesellschaften erheblich voranbringen. Und zuvörderst müssten unsere Bildungseinrichtungen die emotionale Intelligenz intensiver fördern als die intellektuelle, damit der Nachwuchs nicht bereits auf falschen Pfaden in die Zukunft startet. Dass das aber die zugestandenen Ressourcen für unsere staatlichen Systeme weit überfordert, habe ich an anderer Stelle bereits mehrfach thematisiert.
In einer Welt, in der übermäßiger Konsum – trotz vielfach anderer Lippenbekenntnisse – immer noch die heilige Kuh ist, werden Matés Wünsche vermutlich noch lange unerfüllt bleiben.

Sei du es dir wert und überprüfe, ob du authentisch und in funktionierenden Beziehungen lebst, oder ob du ein neues Gleichgewicht im Sinne des vorgestellten Buches finden willst, damit Krankheit dich nicht am Ende eines Besseren belehren muss.


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