Narziß und Goldmund
Sonntag, 28. Januar 2024
Im Herbst hatte ich „Narziß und Goldmund“ nach meiner Schulzeit zum ersten Mal wieder in den Händen. Ich kann mich erinnern, dass ich als Jugendliche recht wenig damit anfangen konnte – zu gering waren die Möglichkeiten von Identifikation mit den Protagonisten. Erstaunlich, dass ich das Buch im zweiten Durchgang nach ca. 45 Jahren nahezu verschlungen habe. Wovon handelt Hermann Hesses Roman?
Es geht um die Geschichte einer Freundschaft zweier gegensätzlicher Männer. Während Narziß ein Mönch und intellektueller Denker ist, verkörpert Goldmund das Leidenschaftliche, Sinnliche, die Kunst. Wie im „Steppenwolf“ auch, findet sich Hesse meiner Wahrnehmung nach eher im Charakter des einsamen Intellektuellen wieder, der sich vom Leben ausgeschlossen und unverstanden fühlt und sich gleichermaßen nach ihm verzehrt. Diese Sehnsucht bildet er in der lebensfrohen Person des Goldmund ab, die alle Höhen und Tiefen des Lebens „mitnimmt“, die sich ihm bieten: zahlreiche Liebschaften, die Pest, Totschlag, eine drohende Hinrichtung, künstlerischer Erfolg, zuletzt der Tod. Hesse, alias Narziß, ist fasziniert von der Lebendigkeit und vom Wagemut des Goldmund, der das abwechslungsreiche Leben des Augenblicks eindeutig dem sicheren Leben hinter dicken Klostermauern vorzieht.
Sind Narziß und Goldmund nun zwei unterschiedliche Charaktere oder – den Ideen Carl Gustav Jungs folgend – die zwei gegensätzlichen archetypischen Seiten in uns, die männliche kognitive (Animus = lat. Seele) und die weibliche intuitive (Anima als weibliches Pendant)?
Er (Narziß) sah Goldmunds Natur, die er trotz des Gegensatzes innigst verstand; denn sie war die andere, verlorene Hälfte seiner eigenen.
Hesse, eindeutig von Jung beeinflusst, sieht die Lebensaufgabe des Menschen im Aufspüren seiner unterentwickelten oder gar fehlenden Seite. Es geht in letzter Instanz um das menschliche Ganz-Werden, unsere Vollständigkeit. Keine der beiden Seiten ist zu bevorzugen, keine ist die wertvollere; erst in der Ganzheit gelangt der Mensch in sein vollständiges Potenzial. So lässt der zunächst überlegen scheinende Narziß am Ende der Erzählung zu, vom leichtfüßigen Goldmund belehrt zu werden. Dieser hat ihn mit seiner versteckten, unterdrückten Seite konfrontiert und damit verborgene Sehnsüchte wachgerufen. In seinem psychoanalytischen Ansatz beschreibt Carl Gustav Jung diesen Prozess als „Schattenarbeit“; lies dazu vielleicht noch einmal den Blog vom 5.2.23.
Ich persönlich kann mich tatsächlich in weiten Teilen eher mit Narziß als mit Goldmund identifizieren. Vom westlichen Vernunfts- und Sicherheitsdenken (repräsentiert durch die dicken Klostermauern) geprägt, fallen mir Lebenslust, Leichtigkeit und auch Risikobereitschaft, die das Sein im Moment halt mit sich bringen, eher schwer. Und genauso wie Narziß spüre ich eine große Sehnsucht, diese verschüttete Seite in mir bloßzulegen und zu leben.
Wie geht es dir mit alledem? Kannst du dich in einem der Charaktere oder gar in beiden wiederfinden? Wie ausgeglichen ist das Verhältnis beider in dir? Was vermutest du in deinem „Schatten“?
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